Groß Born (Borne Sulinowo) – die unsichtbare Stadt im Naturparadies
Das Haus ist frisch verputzt, die neuen Dachziegel leuchten in der Sonne. Vielleicht wurde das einstöckige Haus in den 1930er Jahren errichtet. Von der Straße aus kann ich den liebevoll hergerichteten Garten sehen. Zwischen Obstbäumen und unter einer Birke lädt ein neu erbauter Pavillon aus Holz zum Verweilen ein. Familien mit Kindern im Schlepptau und Badesachen unter den Armen strömen an mir vorbei zum Pilburger See (Jezioro Pile), der nur wenige Meter vom Haus entfernt ist. Spielende Kinder sind von dort zu hören. Ein Jet Ski jagt mit lautem Getöse über das Wasser. „Möchten Sie Fotos vom Haus machen?“, fragt mich eine Frau mit schwarzen Haaren. „Gehen sie ruhig in den Garten.“ Das Haus, für das ich mich aus historischen Gründen interessiere, steht in Borne Sulinowo (früher Groß Born).


Ist die Stadt mitten in der Pommerschen Seenplatte ein Erholungsort? Ja, jedoch erst seit kurzem. Bis 1992 existierte der Ort auf keiner Landkarte in den Ländern des Warschauer Paktes. Die Armee der damaligen Sowjetunion hatte das Militärgelände nach dem Zweiten Weltkrieg von der deutschen Wehrmacht übernommen und zum Befehlsstand der Nordgruppe der Roten Armee gemacht. Streng geheim und von der polnischen Bevölkerung in der Umgebung abgeschirmt wurde hier der Kalte Krieg verwaltet und er Heiße Krieg geplant. Die sowjetischen Soldaten durften keinen Kontakt zur einheimischen Bevölkerung pflegen. Die Isolation ging soweit, dass sie zwischen dem Militärstützpunkt im polnischen Westpommern und ihrer sowjetischen Heimat in verplombten Waggons pendelten. Die von der Mangelwirtschaft in der Volksrepublik geplagten Polen fanden dagegen, so berichteten Zeitzeugen, vereinzelt den Weg in die abgeriegelte Militärbasis, um in den dortigen Geschäften einzukaufen, die ein außergewöhnlich vielfältiges Warenangebot hatten.
Fast jedes Haus in Borne Sulinowo kann eine Geschichte erzählen. Die hübsche Pension, die mir als erste ins Auge gefallen war, diente während des Kalten Krieges als Gästehaus für höhere sowjetische Offiziere. Auf dem eingewachsenen Nachbargrundstück steht eine weiß gestrichene Villa zum Verkauf. Sie ist wiederum eng mit der deutschen Geschichte des Ortes verbunden. In ihr lebte während des Zweiten Weltkrieges General Erwin Rommel, als er hier sein Afrikacorps zusammenstellte. Kurz zuvor war bereits ein anderer deutscher General in Groß Born. Im Sommer 1939 bereitete der deutsche Panzergeneral Heinz Guderian seine Panzerdivision auf den Überfall auf Polen am 1. September desselben Jahres vor. Sein in unmittelbarer Nachbarschaft der Rommel-Villa stehendes Haus ist heute leider nur noch eine Ruine.
Auch das Potsdamer Infanterie-Regiment 9 wartete in Groß Born auf den Befehl zum Einmarsch in Polen. Im Regiment dienten Heinrich und Richard von Weizsäcker, der spätere 6. Bundespräsident der Bundesrepublik. Heinrich von Weizsäcker erhielt am 2. September in der Tucheler Heide im polnischen Korridor einen tödlichen Halsschuss. Sein Bruder Richard war nur wenige Meter von ihm entfernt und begrub ihn. Später ließ die Familie von Weizsäcker den Leichnam von Heinrich umbetten. Seine letzte Ruhestätte fand er auf einem kleinen Friedhof neben dem Schloss Solitude in Stuttgart.
Ausbildungsstätte für Artilleriesoldaten
Nach dem Ersten Weltkrieg – in den 1920er Jahren – entdeckte die Wehrmacht den kleinen Ort Linde, aus dem später Groß Born und nach 1945 Borne Sulinowo wurde, für sich und baute das kleine Dorf zu einem Militärstützpunkt mit Truppenübungsplatz für die Schulung ihrer Artilleriesolden aus. Die den Ort umgebende Heide war ideal für das Üben an der Artillerie.
Viele Häuser in der Stadt stammen noch aus der deutschen Zeit. Nicht nur das einstige Gästehaus für sowjetische Offiziere und die Villa von Rommel. Überall stehen Kasernenbauten aus den 1920er Jahren und der Zeit des Nationalsozialismus, die inzwischen zu Wohnungen und Pensionen ausgebaut wurden. Einige Kasernenbauten stehen jedoch leer und verfallen zusehends.
Die Siedlung der Plattenbauten „Leningrad“ in der ul. Wojska Polskiego ist dagegen unübersehbar aus sowjetischer Zeit und diente als Unterkunft für Offiziere und Unteroffiziere. Ihren Spitznamen erhielt die Siedlung, weil die Bauelemente der Häuser in Leningrad (heute St. Petersburg) angefertigt und nach Polen transportiert worden sind. Nachdem die russische Armee das Gelände 1992 geräumt hatte, wurden die Plattenbauten modernisiert und polnische Familien zogen in die Wohnungen ein.
"Touristische Bummelroute"
Die wechselvolle Geschichte des Ortes als deutscher und sowjetischer Militärstützpunkt nutzt die Stadt geschickt für ihr Marketing. Für historisch interessierte Besucher hat sie eine "Touristische Bummelroute" entwickelt, die an den wichtigsten militärischen Einrichtungen vorbeiführt. Das immerhin 53 Seiten dicke Begleitheft in polnischer, englischer und deutscher Sprache kann man in der Touristeninformation in der ul. Chrobrego 3 A erwerben. Hier beginnt auch die Route mit dem Haus der Stadtverwaltung, in dem bis 1945 die deutsche Kommandantur ihren Sitz hatte.

Naturparadies
Die schönere Seite von Borne Sulinowo ist unbestreitbar die Natur. Die Stadt liegt am Ufer des Pilburger Sees, einem grünen Paradies für Badegäste, Wassersportler, Taucher und Angler. Er ist ein Relikt der letzten Eiszeit und 57 Hektar groß. Gleich drei Badestellen buhlen in Borne Sulinowo um die Gunst der Touristen. Hobbytaucher kommen hierher, um zu einem versunkenen Wald hinabzutauchen, der in 16 m Tiefe nahe einer der beiden Inseln liegt, die es im Pilburger See gibt. Der See soll der sauberste See in Polen sein, habe ich in einer polnischen Tageszeitung gelesen. Gründe sind vermutlich seine Lage in einer sehr dünn besiedelten Gegend, in der kaum intensive Landwirtschaft betrieben wird.
Für Kinder und Naturliebhaber wurde am Zugang zur Adlerhalbinsel ein Naturlehrpfad eingerichtet, der über die hiesige Fauna und Flora informiert. Auf den kargen Sandböden in der Region fühlen sich Kiefern am wohlsten. Die vielen Bäume, zwischen denen die Villen und einstige Kasernen stehen, machen den Charme der Stadt aus. Immerhin ist die Hälfte der Stadtfläche mit Wald bedeckt.
Paddeln auf dem Fluss Pilawa und Oflag II D Groß Born
Auch in der Umgebung von Borne Sulinowo kommen Naturliebhaber und an der Geschichte interessierte auf ihre Kosten. Es gibt dutzende kleine und große Seen. Paddler genießen die Fahrt auf dem Fluss Pilawa, der in den See Jezioro Długie mündet. Zahlreiche ausgeschildete Radwanderwege durchkreuzen die Wälder in und um die Stadt herum.
Denkmal für die Gefangenen des Oflag IIB
Zwischen den Dörfern Nadarzyckie und Sypniewo erinnert ein Denkmal an das Oflag II D (Offizierslager II D), in dem die Deutschen während des zweiten Weltkrieges alliierte Offiziere interniert hatten. 12.000 Soldaten kamen in dem Oflag ums Leben. Ein kleines Denkmal erinnert an die rund 3.000 französischen Offiziere, die bis 1942 im Oflag II D interniert waren. Über das Schicksal eines Soldaten der Roten Armee informiert eine an einen Baum genagelte Messingplatte: „Nikolai Vassilievich Lebedev, Born in Permoshie, Yaroslavskaya region, Russia on December 06, 1918, Died in nazi death camp Stalag 002 on October 15, 1941, we remember.“ Vorübergehend war im Oflag IIB auch Henryk Sucharski, der letzte Kommandand des polnischen Militärhafens Westerplatte in Danzig (Gdańsk), interniert.
Ebenfalls zwischen den Orten Nadarzyckie und Sypniewo liegt die „Verlassene Stadt“ Kłomino, eine weitere Militärbasis der Sowjets. Die letzten zweieinhalb Kilometers des Weges dorthin sind allerdings sehr eng und nicht befestigt, sodass man entweder einen Geländewagen oder ein Fahrrad für die Anfahrt benötigt.
In Kłomino befinden sich noch die Bunker für mobile Raketenabschussrampen. Sie gehören zu den großen Geheimnissen der militärischen Hinterlassenschaften. Es wird gemunkelt, dass die Sowjetunion während des Kalten Krieges hier mit Atomsprengköpfen bestückte Raketen stationiert hatte.
Auf die vielen Überreste von militärischen Anlagen in der Umgebung von Borne Sulinowo weisen Schilder an den Straßenrändern hin. So zum Beispiel auf einen Staudamm an der Straße nach Nadarzyckie. In den Sommermonaten lohnt sich ein Abstecher zum Staudamm schon deshalb, weil man hier seine strapazierten Füße ins kühle Nass halten kann.
An der Straße nach Neustettin (Szczecinek) liegt der sowjetische Friedhof, an dessen Eingang ein merkwürdiges Denkmal steht. Es stellt eine Hand dar, das eine in den Himmel gerichtete Maschinenpistole emporhält. Unter den Gräbern befinden sich viele Kindergräber, auf denen immer noch Plüschtiere stehen.
Ein historisches Datum soll zum Schluss noch eingefügt werden: Borne Sulinowo wurde 1993 das Stadtrecht verliehen und ist damit die jüngste Stadt Polens. (fh)
Die Stationen der touristischen Bummelroute:
- Die Stadtverwaltung der Stadt Borne Solinowo
- Grünfläche vor der Stadtverwaltung mit Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus und des Stalinismus
- Haus der Partei
- Ehemaliger Sitz des KGBs und der sowjetischen Militärstaatsanwaltschaft
- Ehemalige Offizierskantine
- Ehemaliges deutsches und sowjetisches Militärkrankenhaus
- Eingangstor zum Militärstützpunkt
- Eisenbahnrampe
- Lagerhäuser
- Ehemaliger Sitz der Militärfeuerwehr
- Sportflughafen am südlichen Stadtrand an der Straße nach Piła
- Siedlung der Plattenbauten „Leningrad“
- Grünfläche zwischen den Straßen ul. Marii Konopnickiej und Frederyka Chopina
- Eingangstor am Westrand der Stadt an der Straße nach Szczecinek
- Soldatenheim
- Kultur und Bildungshaus neben der Gemeinschaftsschule „Helden des Oflags IID“
- Sporthalle
- Kirche unter dem Patronat des heiligen Bruders Albert
- Ehemaliges Militärgefängnis
- Offiziershaus
- Villa des Gernerals Dubynin
- Halbinsel „Adlerkopf“
Hotels
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Groß Born (Borne Sulinowo), Polen23.03.2023 – 17:34 Uhr
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Touristeninformation
Informacja Turystyczna
ul. Bolesława Chrobrego 3A
78-449 Borne Sulinowo
Tel.: +48 (0) 94 3734166
E-Mail: it@bornesulinowo.pl