Uszew in Kleinpolen
„Ach Kindchen, mach doch so viele Fotos, wie du willst. Der Pfarrer kommt erst morgen wieder zurück“, augenzwinkernd erwidert die junge Nonne meine Bitte um die Erlaubnis, in der Kirche fotografieren zu dürfen, und wirft mit Schwung das sorgsam gezupfte Unkraut in einen großen Weidenkorb. Der Garten des Wohnhauses der Josephschwestern ist ein sich sanft im Wind wiegendes, duftendes Blumenmeer.

Eigentlich hätte man hier, in direkter Nachbarschaft der Pfarrhausküche, eher einen gepflegten Gemüse- und Nutzgarten erwartet, aber anscheinend stellen die Schwestern die vergängliche Ästhetik der Natur über deren praktischen Nutzen. Die Reinigungskraft, die uns zunächst partout nicht reinlassen wollte („Der Herr Pfarrer sieht es gar nicht gern, wenn Fremde außerhalb der Gottesdienste in die Kirche hineinwollen. Wissen Sie, man kann heutzutage keinem mehr trauen, auch bei uns ist schon so viel geklaut worden. Und wenn Sie auch nur fotografieren wollen, wer weiß, was Sie mit den Bildern später alles anstellen werden.“), schüttelt zwar weiterhin missbilligend mit dem Kopf, erlaubt es uns aber sogar, über den frisch gebohnerten Fußboden zu laufen. Trotz anfänglicher Schwierigkeiten: Da ist sie also, die St. Florian-Kirche in Uszew, in der anno 1884 meine Urgroßmutter Maria getauft wurde. Schade eigentlich, dass der Pfarrer nicht da ist, sonst hätte ich gleich die Gelegenheit genutzt, einen Blick in die Kirchenbücher reinzuwerfen. Natürlich vorausgesetzt, es wäre mir gelungen, bei dem Gottesmann das Eis des Misstrauens zu brechen.
Zeitreise in die Provinz Galizien
In Gedanken mache ich eine kleine Zeitreise. 1884 - Seit gut 100 Jahren ist Polen ist auf keiner Weltkarte verzeichnet. Die Einwohner von Uszew, einem kleinen Dorf in der tiefsten Provinz Galiziens, größtenteils Kleinbauern, die mehr schlecht als recht von den mickrigen Erträgen ihrer kargen Äcker leben können, sind allesamt noch brave Untertanen von Kaiser Franz Joseph I. Ihro Majestät irgendwann einmal zu sehen, davon wagen sie nicht einmal zu denken. Aber manch einer von ihnen wird in seiner dunklen Diele davon geträumt haben, wenigsten einmal in seinem Leben in das knapp 50 Kilometer entfernte Krakau (Kraków) reisen zu können. Für die meisten von ihnen wird es nur ein Traum bleiben.
An einem kalten Februarmorgen erblickt in einer buckligen Bauernkate auf einer verschneiten Anhöhe ein kleines Mädchen das Licht der Welt. Die Geburt wird wohl schnell und unkompliziert gewesen sein, denn es ist bereits das vierte Kind der erst dreiundzwanzigjährigen Mutter, die auf den schönen Namen Helena hört. Nur zwei Tage später trägt sie, umringt von einer Schar von Verwandten und Nachbarn, das Neugeborene durch den tiefen Schnee zur Taufe in die St. Florian-Kirche.

Das erste Gotteshaus von Uszew - die hölzerne Kirche Aller Heiligen - wurde zu Beginn des 14. Jahrhunderts erbaut. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch einen Blitz getroffen brannte die Kirche komplett nieder. In den Jahren 1801-1806 entstand an der Stelle der alten Kirche die barock-klassizistische St. Florian-Kirche. Die gesamte Inneneinrichtung stammte aus dieser Zeit, nur das Bildnis der Muttergottes, das am Hauptaltar der alten Kirche hing, konnte aus dem Brand gerettet werden. Zerstörungen musste die neue Kirche vor allem im Ersten Weltkrieg erleiden, durch unmittelbare Kampfhandlungen wie auch durch Soldaten verschiedener Nationen, die sich im Laufe des Kriegs immer wieder in der Kirche und im benachbarten Pfarrhaus einquartierten. Der damalige Pfarrer, Wojciech Rogoziewicz, soll sogar einen deutsch-österreichischen Militärstab unter der Führung von Kronprinz Ferdinand persönlich beherbergt haben.
Schade, dass es mir nicht gelungen ist, auf dem umliegenden Friedhof die Gräber meiner Vorfahren zu finden. Die meisten Gräber sind neueren Datums, was bedeutet, dass die alten nach einer bestimmten Zeit eingeebnet werden. Auch die alten Bauernhäuser sind bequemeren Einfamilienhäusern gewichen, nichts erinnert noch an ein ärmliches kleinpolnisches Dorf. Auf dem Weg zum Auto schaue ich noch in Richtung des Schwesternhauses. Die freundliche „Gärtnerin“ winkt mir zum Abschied mit ihren dicken Schutzhandschuhen zu. (fh)
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(Uszew), Polen01.04.2023 – 06:21 Uhr
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