
In der Nähe des Schlosses Solitude in Stuttgart befindet sich ein kleiner Friedhof aus dem 19. Jahrhundert. Auf ihm findet man ein Familiengrab derer von Weizsäcker.
Die Buslinie 92 fährt auf dem Weg von Stuttgart nach Gerlingen durch einen Wald, den ich in dieser dicht besiedelten Industrieregion nicht erwartet hätte. Noch überraschter bin ich, als der Bus direkt vor einem Schloss mit ausladender repräsentativen Freitreppe hält. „Schloss Solitude“ entziffere ich auf dem Haltestellenschild. Mit den Worten „Lass uns aussteigen.“ zerrt mich mein Stuttgarter Freund aus dem Bus. Durch einen Gang unterhalb der Treppe gelangen wir auf die nördliche Seite des Schlosses. Vor mir öffnet sich eine parkähnliche Landschaft mit einer Allee, die schnurgerade den Berg hinabführt. „Da staunst du, was?“, fragt mich mein Freund, schlägt sein schier unerschöpfliches Geschichtslexikon in seinem Kopf auf und präsentiert die historischen Eckdaten: Die Solitudeallee diente als Verbindungsachse zum Residenzschloss im zehn Kilometer entfernten Ludwigsburg, das in der Ferne zu erkennen ist. Herzog Carl Eugen ließ sie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts anlegen.

Gefallen in der Tucheler Heide
Was hat das Schloss mit Polen zu tun? In der Nähe des Schlosses, an der Bergheimer Steige, versteckt sich zwischen Bäumen ein kleiner Friedhof. Zwischen Efeu liegen hier drei Grabplatten, die zu einem Grab der Familie von Weizsäcker gehören. Heinrich von Weizsäcker diente als Offizier und Zugführer im Potsdamer Infanterie-Regiment 9. Im Sommer 1939 wurde das Regiment auf den Truppenübungsplatz Groß Born im Nordwesten des heutigen Polens verlegt. Dort wartete das Regiment auf den Befehl zum Einmarsch in den polnischen Korridor, der am 1. September ausgeführt wurde. Es war der Beginn des Zweiten Weltkrieges (1939-1945). Am 2. September traf in der Tucheler Heide ein tödlicher Schuss den 22-jährigen von Weiszäcker in den Hals. Sein Bruder Richard, der spätere 6. Bundespräsident der Bundesrepublik, war nur wenige Meter entfernt, als der Schuss fiel.
Ernst von Weizsäcker – Münchner Abkommen ausgehandelt
Auch der Vater der beiden, Ernst von Weizsäcker, fand auf dem Schlossfriedhof seine letzte Ruhestätte. Seine Rolle in der Zeit, als die Nationalsozialisten in Deutschland an der Macht waren (1933-1945), ist umstritten. Er arbeitete im deutschen Außenminister und dort ab 1938 als Staatssekretär. In dieser Funktion verhandelte der Diplomat 1938 das Münchner Abkommen mit Großbritannien, Frankreich und Italien aus, das zunächst einen europäischen Krieg verhinderte. Der Preis war das „Sudetenland“, das die Tschechoslowakei an das Deutsche Reich abtreten musste. 1938 war Ernst von Weizsäcker in die NSDAP und in die SS eingetreten. Für die Beteiligung an der Deportation von französischen Juden nach Auschwitz wurde er im vorletzten Prozess des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals zu fünf Jahren Haft verurteilt. Richard von Weizsäcker half seinem Vater, indem er sein Jurastudium in Göttingen unterbrach, um der Verteidigung seines Vaters zu assistieren. Im Zuge einer Amnestie wurde Ernst von Weizsäcker 1950 frühzeitig aus der Haft entlassen. Er starb 1951. Richard von Weizsäcker hat seinen Vater bis zu seinem Tode 2015 konsequent verteidigt. Sein Verdienst ist seine Rede als Bundespräsident anlässlich des 40. Jahrestages des Kriegsendes, als er vom 8. Mai 1945 als „Tag der Befreiung vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ sprach.
Friedhof Solitude – zuerst Soldatenfriedhof
Der dritte Grabstein gehört Marianne von Weizsäcker (1889–1983), der Ehefrau von Ernst. Die Weizsäckers wurden auf dem Solitude-Friedhof beigesetzt, weil sie zeitweise in einem der Häuser neben dem Schloss gewohnt hatten. Angelegt wurde der Friedhof 1866, als das Schloss im Zuge des preußisch-österreichischen Krieges zu einem Lazarett umfunktioniert wurde. Die verstorbenen Soldaten beerdigte man auf dem Solitude-Friedhof. Ein Gedenkstein erinnert daran. (Frank Hilbert)